Kawasaki ZX 10 R
Satte Literschüssel
Fahrbericht zur Kawasaki ZX 10 R
(Stand: 08/2004)
Text: Ralf Kistner
Fotos: Ralf Kistner, Gitte Schöllhorn
Das Jahr 2004 ist das Schaltjahr der 1000er Supersportler. Das Traumziel, ein Leistungsgewicht von 1 PS : 1 kg Trockengewicht herzustellen, ist im Serienbau erstmals von Kawasaki geknackt worden - zumindest laut Herstellerangaben - mit der komplett umgearbeiteten ZX 10 R. Diverse Fachzeitschriften haben auf ihren Leistungsprüfständen unterschiedliche Leistungswerte eruiert. Doch bin ich davon nach diesem Test überzeugt, dass ein paar PS rauf oder runter auf das Endergebnis keinen Einfluss haben.
Meine Testmaschine wurde mir freundlicherweise von der Firma Haman in Donauwörth zur Verfügung gestellt, wo sie neben der gesamte Modellpalette von Kawasaki und Triumph besichtigt bzw. Probe gefahren werden kann.
Sie ist grün, sie ist zierlich, wirkt grazil und verspricht schon im Stand Dynamik und Schnelligkeit. Voll getankt bringt sie gerade mal 198 kg auf die Waage. Somit hat sie in der 1000er Supersportklasse im Moment die Rolle des absoluten Leichtgewichts inne.
Eine vollkommen neue Rahmenkonstruktion erlaubt eine schmale Baubreite. So verläuft der aus Guss- und Strangpressteilen gefertigte Rahmen oberhalb des tief liegenden Motors, was den Schwerpunkt nach unten verlagert. Die Handlichkeit soll so positiv beeinflusst werden.
Das Problem, das sich den Ingenieuren von Kawasaki stellte, lag darin, die ungeheure Leistungsausbeute am Hinterrad sicher auf die Straße zu bringen. Dies begünstigen der tiefe Schwerpunkt und die kompakte Bauform, wodurch der Anbau einer langen Schwinge den mechanischen Grip am Hinterrad effektiv erhöht. Wie sich das im praktischen Fahrbetrieb auswirkt, sollen nun einige Ausfahrten zeigen.
Der Motor läuft direkt nach dem Kaltstart gleichmäßig mit Ausstrahlung sonorer Basstöne aus der Titanauspuffanlage vor sich hin. Die Sitzposition wurde im Vergleich zur ZX 9 R wesentlich sportlicher. Ich fühle mich sofort in die Maschine und ihr Konzept integriert. Der Knieschluss passt perfekt, die Knie brauchen nicht überknickt werden. So verlasse ich den Hof der Fa. Haman, um in meine Teststrecken einzuschwingen.
Das sonore Standgasbrummeln geht bei den ersten Gas-
stößen ab 4000 Umin in ein voluminöses und meine Endorphine ausschüttendes Fauchen über. Gigantisch dieser Sound. Ähnlich wie bei der Z 750 ist den Ingenieuren eine den Fahrspaß deutlich unterstützende Klangsymphonie gelungen, die im oberen Drehzahlbereich ihren Höhepunkt in Form wilden Schreiens findet. Das passt wunderbar mit dem Antritt und der Leistungsabgabe des Motors zusammen. Womit ich zum eigentlichen Kern dieses Tests komme.
Der Motor ist ein absolutes Sahnestück. Ruhig, jedoch nicht ganz vibrationsfrei, vermittelt er das Gefühl von bäriger Kraft. Schon im Standgas kann er beim Anfahren zeigen, dass in ihm ein Vulkan brodeln kann, wenn man ihn lässt. Und genau das ist der absolute Pluspunkt der ZX 10 R. Sie hat unheimlich Leistung. Und ich bin jederzeit Herr der Lage, da ich die Leistung wirklich punktgenau steuern und dosieren kann. Sicherlich ein Verdienst der präzisen Motorabstimmung.
Im Stadtverkehr bin ich maximal im dritten Gang unterwegs, obwohl das Mitschwimmen im sechsten genau so ginge. Im dritten kann ich jedoch zwischen den Häusern die Klangsymphonie besser genießen und die Langeweile überbrücken, bis ich endlich wieder freie Landstraßen vorfinde. Kurzes Beschleunigen reicht aus, um die Kawa auf bundesstraßentaugliches Tempo zu bringen. Der Akt ist kaum spürbar, da die Ninja die Leistung in diesem Bereich so homogen und dennoch kraftvoll abgibt, dass diese Tempoerhöhung für mich kaum spürbar bleibt und ich ab sofort die zentrale Infoeinheit besser überwache, um nicht unabsichtlich in blitzlichtverdächtige Geschwindigkeitsbereiche vorzudringen. Tempo halten ist mit der Kawa kein Problem. Das fiel mir letztes Jahr mit der GSX-R 1000 wesentlich schwerer, weil sich ihre Leistung nicht so fein dosieren ließ.
Im bekannten Terrain lasse ich die Zügel der Kawa lockerer, was sie mit knackiger Beschleunigung belohnt. Die Leichtfüßigkeit und Wendigkeit, die Kurvenstabilität und Agilität überzeugt mich sofort und zeigt mir, dass ich sie zumindest auf der Landstraße an keine ihrer Grenzen bringen kann. Das ist Motorradfahren in Perfektion.
Und schnell kann es mit der 10er sowieso gehen. Sie drückt ab 8500 Umin bis zur maximalen Drehzahl bei gut 12000 Umin dermaßen heftig ihre Leistung ab, dass ich hin und her schwanke zwischen absoluter Begeisterung und gehörigem Respekt. Der Grat, auf den ich mich plötzlich zubewege, wird im oberen Drehzahlbereich auf der Landstraße sehr schmal, denn dieser Antritt und diese Leistungsentfaltung können von einer Sekunde zur anderen dazu führen, in Geschwindigkeitszonen zu gelangen, die jenseits jeglichen Motorradalltags liegen. Das ist für mich bisher einzigartig in dieser Klasse, zumindest, was ich bisher als Serienfahrzeuge zum Testen hatte.
Die Perfektion dieses Motorrades liegt im Gesamtkonzept. Leistung ist die eine Seite. Diese umzusetzen und dann auch noch problemlos schnell fahren zu können die andere. So stellt die geänderte Rahmenbauweise mit ihrem tiefen Schwerpunkt die Handlichkeit einer 600er Klasse sicher. Sie lässt sich leichter als eine CBR 1000 RR einlenken oder in Kurvenkombinationen hin und her werfen. Die Stabilität ist auf gleichem Niveau.
Kräftiges Beschleunigen führt überraschenderweise nicht so oft wie angenommen zu einem leichten Vorderrad. So hebt beim Ausdrehen im zweiten, dritten und auch vierten Gang bis ans Drehzahllimit das Vorderrad nur leicht vom Boden ab, doch lange nicht so abrupt und unruhig wie man es von anderen Maschinen dieser Klasse ohne verbauten Lenkungsdämpfer gewohnt ist. Dieses Bauteil fehlt der Kawa. Ich vermisse ihn jedoch kaum - und nur die beschriebenen Gasattacken machen das Fehlen des Dämpfers deutlich. So muss es jeder Käufer selbst wissen, ob er einen braucht oder nicht. Der Einsatzzweck wird es letztlich entscheiden. Für den "normalen" Landstraßenbetrieb kann ich jedoch gut ohne ihn auskommen.
Ein einstellbarer Back-Torque-Limiter in der Kupplung verhindert das Blockieren des Hinterrades beim Herunterschalten. Diese Anti-Hopping-Kupplung funktioniert genial und ist durchaus als Sicherheitsplus zu werten. Schließlich bleibt die Maschine so beim Herunterbremsen spurtreu und überrascht nicht mit einem schlingernden und adrenalinfördernden Heck, wenn das Hinterrad beim Betätigen der satt zupackenden Vorderbremse doch mal zu leicht werden sollte. Die Stopper sind in ihrer Wirkung und Dosierung einfach genial. Mehr brauchte ich dazu nicht schreiben. Lediglich der Leerweg vergrößert sich, wenn die Anlage mit ihren cool trendigen Wavescheiben und radial verschraubten Einzelbelag-Vierkolbenzangen heißgebremst ist. Fading tritt wärend meiner Testfahrten nicht auf. Sie vermittelt absolutes Vertrauen und lässt sich wie die Leistung von sanft bis gnadenlos stufenlos dosieren.
Das Fahrwerk fühlt sich straff, jedoch nicht hart an. Durch die ergonomische Sitzposition treten auch nach längeren Tiefflügen keine körperlichen Verschleißerscheinungen auf. Die Handgelenke kann ich nach gut vier Stunden Fahrt noch schmerzfrei bewegen. Ebenso überrascht mich der Windschutz, der im "aufrechten" Sitz bis 220 km/h noch recht effektiv und ohne Verwirbelungen die Frontorkane von mir abhält. Erst darüber verkrümele ich mich hinter die kleine Verkleidungsscheibe. Die weite Tankmulde auf der Oberseite erleichtert diese liegende Sitzhaltung erheblich, so dass auch ich mit meinem Waschbärbauch eine der Geschwindigkeit angemessene Haltung einnehmen kann ;-)
An der Tankstelle errechne ich nach zügiger Hatz einen Verbrauch von knapp 7,5 Litern. Immerhin einen Liter weniger als die CBR 1000 RR bei gesteigertem Fahrspaß. Die Kawa erfüllt die Euro 2 Norm mit ungeregeltem Kat. So ist auch sie wie mittlerweile fast alle Maschinen für die Zukunft gerüstet.
Fazit:
Die ZX 10 R hat Spaß gemacht und mir gezeigt, dass fulminante Leistung nicht unkontrolliert abgegeben werden muss. Die Maschine wirkt auf mich perfekt. Leider war ein Rennstreckentest nicht möglich. Doch denke ich, dass hier die Maschine erst ihr eigentliches Potential ausspielen kann.
Mit ihr haben die Kawa-Ingenieure den neuesten Stand der Motorradtechnik auf zwei Räder gestellt und ihre Hausaufgaben gemacht. Sie ist schnell wie der Wind, leicht wie eine Feder und stark wie ein Bär und vermittelt obendrein dynamischen Fahrspaß mit maximalem Grinsfaktor - alles untermalt von bärig-fauchendem Kawa-Sound. Bikerherz - was willst du mehr?