Aprilia Tuono V4 R



Es donnert

Fahrbericht mit der Aprilia Tuono V4R


Text: Ralf Kistner
Fotos: Ralf Kistner, Tom Rueß



Was für ein Donnergrollen? Was für ein Motorrad? Ich stehe vor der neuen Aprilia Tuono V4R. Es ist derzeit das leistungsstärkste Nakedbike in Serienproduktion. Wir sprechen hier von 167 PS. Und wir sprechen von einem Drehmoment von 112 Newtonmeter. Beides hört sich gewaltig an. Beides gibt sich gewaltig.
Ich war begeistert, als ich das erste Mal von diesem Motorrad las. In Erinnerung hatte ich noch die Ausfahrten mit der Aprilia RSV4. Sie stellt schließlich den Kern dieses nackten Hammermotorrades. Wenn man genau hinsieht, wird man viele bekannte Teile entdecken, die auch an der RSV4 verbaut sind. Und ich entdecke leichte Ähnlichkeiten zur alten Tuono.
Auch an dieses Motorrad habe ich sehr gute Erinnerungen. Sie glänzte mit genialem Fahrwerk und einer ausgereiften Balance. Und sie war handlich, sodass sie sowohl auf kleinsten Straßen als auch auf supersportähnlichen Passagen zuhause war. Wie sich hier die neue Tuono V4 verhält, gilt es nun herauszufinden.

Tuono ist italienisch und heißt Donner. Und die Jungs von Aprilia taten alles, um genau diesen Donner schon beim Anlassen dem eigenwillig geformten Auspufftopf zu entlocken.
Meine Testmaschine stellt mir Oliver Dürr von der Firma Motorrad Dürr in Kleinerdlingen bei Nördlingen zur Verfügung. Und er hat wieder dieses Grinsen. Dieses vielsagende Grinsen, mit dem er mir klarmachen möchte, dass eine Menge Spaß auf mich zukommt. Und genau davon gehe ich aus, wenn ich an das bisher Gelesene denke.

Mit Donnergrollen verlasse ich den Hof von Oliver. Zuerst ist tanken angesagt. Als ich in die Tankstelle einfahre, drehen sich einige Köpfe nach mir – nach dem Donnergrollen um. Ich tanke voll und fahr in Richtung Christgarten. Über kleine Sträßchen lenke ich die Tuono zum Fotoshooting. Schon bei diesem Einrollen merke ich, dass die Tuono auf der Liste der Wunschmotorräder unter die top Five kommen wird. Die aufrechte und leicht nach vorne gebeugter Haltung macht es mir leicht, das Motorrad gut zu handeln. Ich bekomme zu spüren, was es heißt, die Beschleunigungswerte einer Supersportmaschine auf einer Naked auszuprobieren. Wie auf einer mittelalterlichen Streckbank zieht es mir die Arme derart lang, dass ich mich darum sorge, ob nach dieser Fahrt die Ärmel meiner Motorradjacke noch passen werden.

212 Kilo Leergewicht treffen auf 167 PS. Das sind ähnliche Werte über der Supersportversion. Nur sitze ich aufrecht, habe eine breite lenkende Hand und vor mir nur einen Hauch eines Windschutzes.Die Knie haben ein sehr spitzen Winkel ...

Aber fangen wir nochmal von vorne an:

Was haben die Jungs bei Aprilia an der Tuono im Vergleich zum Supersportmotorrad verändert?
  • Um das Vorderrad auf dem Boden zu halten, wurde die rahmenfeste Verkleidung so konzipiert, dass neben den RAM-Air-Lufteinlässen kleine Flügel für Abtrieb sorgen. Sonst hätte die Leistung im sechsten Gang reduziert werden müssen.
  • Zahmere Steuerungszeiten
  • Ein längerer Ansaugschnorchel
  • Mehr Schwungmasse an der Kurbelwelle
  • Eine um 1000 Umdrehungen reduzierte Maximaldrehzahl
  • Die gesamte Motorcharakteristik auf Durchzug getrimmt
  • Die ersten drei Gänge sind kürzer übersetzt. Folge: mehr Durchzug
  • Der Motor sitzt 5 mm tiefer im Rahmen.
  • Der Radstand ist 25 mm länger.
  • Der Lenkkopfwinkel ist 0,5° flacher.
  • Der Schwingendrehpunkt wanderte 5 mm nach unten.
  • Auch die Fußrasten wanderten nach unten um 12 mm.
  • Der hohe und breite Lenker
Das alles dient dazu, den supersportähnlichen Kern dieses Motorrades in angenehmer Sitzposition in viel Spaß umzuwandeln. Und das ist das, was sofort entsteht. Sobald der Motor läuft und das Donnern hinten hinausgerollt, ist für ein breites Grinsen im Helm gesorgt. Wenn ich Gas gebe, werden meine Ohren mit einem Potpourri aus Donnergroll aus dem Auspuff und einem dumpfen Saugen aus dem Ansaugschnorchel verwöhnt.
Das ist echter V4-Sound. Dazu gesellt sich die scheinbar nicht zu bändige Kraft dieses Aggregats. Die Tuono schiebt und schiebt. Mit aggressivem Donnergrollen zeigt sie die Richtung an. Das Zauberwort heißt Beschleunigung. Wie wild gewordenen wollen die 167 Zuchtpferde auf einmal losrennen. An meinen Armen zerrt es. Das wirkt wie blankes Fitnesstraining. Der Motor giert nach Drehzahl. Ungestümen explodierte er in den unteren Gängen bis zum Drehzahlbegrenzer. Es wirken plötzlich Kräfte jenseits von Gut und Böse. Mir wird bewusst, dass ich eigentlich mit einem Supersportmotorrad unterwegs bin. Nur ohne Verkleidung. Also voll im Wind und aufrecht sitzend festgekrallt am hohen breiten Lenker. Innerhalb von Sekunden toben plötzlich Stürme am Helm. Der Oberkörper wirkt wie ein Segel und des reißt an den Armen. Das ist Naked fahren. Aber in einer neuen Dimension.

Zur Unterstützung eines eventuellen überforderten Fahrers bietet Aprilia elektronische Helfer an:
ATC (Aprilia Traction Controll), AWC (Aprilia Wheelie Control), AQS (Aprilia Quick Shift), ALC (Aprilia Launch Control). Diese sind in meiner Testmaschine jedoch nicht verbaut. So zeigt das Vorderrad bei Beschleunigungsattacken häufig gen Himmel. Was fehlt ist ein ABS. Daran werde noch gearbeitet.

Für mächtigen Grip sorgt der Pirelli Diablo Corsa. In der 190er Dimension zeigt er am Hinterrad keine Schwächen. Er ist den Gewaltausbrüchen des Motors gewachsen. Er baute schnell Haftung auf und lässt sehr schnelle tiefe Schräglagen zu. So kann man die wirklich große Schräglagenfreiheit der Tuono ohne Probleme und Bedenken nutzen.
Und jetzt sind wir da, was die Tuono wirklich ausmacht. Mit leichtem präzisem Handling kann ich mit diesem Motorrad über die Landstraßen huschen, mich an Kurvengeschwindigkeiten heran wagen, von denen ich mit anderen Motorrädern nur träumen kann. Die Tuono wirkt immer neutral und stabil. Und es scheint in jeder Situation, dass noch etwas mehr geht. Und wenn ich das ausprobiere, scheint nochmal mehr zu gehen. Unglaublich, was die Jungs von Aprilia uns da auf die Räder gestellt haben.

Wie das alles geht? Selbstverständlich muss auch der Rest dieses Motorrades zu dieser Höllenleistung passen. Das bedeutet, dass dazu ein Fahrwerk gehört, das stabil genug ist, um diesen Kräften etwas entgegensetzen zu können. Kein Problem! Das Sachs-Fahrwerk scheint nie richtig gefordert zu sein. Ich kann es auf der Landstraße selten an seine Grenze bringen.
Zudem wirken sich die vorderradorientierte Sitzposition sowie die frontlastige Gewichtsverteilung positiv aus. Dabei liegen 51 % des Gesamtgewichtes auf dem Vorderrad.
Zudem trägt der sehr kompakt gebaute V4-Motor dazu bei, dass das Motorrad derart optimiert gebaut werden konnte.

So vehement, wie beschleunigt wird, muss auch gebremst werden können. Auch das meistert die Tuono mit Bravour. Sowohl in Dosierung als auch in Effektivität gibt sich die Bremsanlage der Aprilia keine Blöße.

Zu meckern gibt es nur etwas über den Benzinverbrauch. So wie dieses Motorrad in jeder Beziehung aus dem vollen schöpft, tut es das eben beim Spritverbrauch auch. Bis zu 10 l auf 100 km, bei artgerechtem Ritt auch mal bis zu 12 l, das ist einfach zu viel.

Fazit:
Dieses Bike ist der Wahnsinn! Aprilia hat die Verbindung zwischen extrem hoher Leistung und einem sportlichen Nakedbike geschaffen. Genial, wie dieses Fitnessgerät puren Spaß verbreiten kann. Nomen erst Omen. Donnern und Leistung passen hier genial zusammen. Ein Motorrad für alle Sinne. So wie ich Leistung verspüre, schwillt das Donnern an. Bluetooth und MP3 können zuhause bleiben. Mit der Tuono V4R habe ich meine Soundmaschine immer dabei. Eine geniale Begleitung, wenn ich mit diesem perfekten Spaßgerät durch die Landschaft pfeile. Die Tuono vereint maximales Handling, monströse Krafteinsätze und effektive Sportbremsen in einem Motorrad.
Wermutstropfen bleibt der Benzinverbrauch. Aber mal ehrlich: wer mag bei einem solchen Naked-Racer Vernunftsaspekte ansetzen?